Schließen
Aktionen

Retten, teilen, essen: Foodsharing in Hamburg

Peter Bienzeisler findet immer etwas Leckeres in der Retterkiste
Peter Bienzeisler findet immer etwas Leckeres in der Retterkiste
Ausgabe 1 / 2024 Ausgabe als PDF speichern

Tag für Tag landen in Hamburg jede Menge Lebensmittel im Müll – die meisten davon sind noch genießbar. Doch es geht auch anders. Die Initiative Foodsharing rettet, was nicht mehr verkauft werden kann. So kann ein Ende auch ein Anfang sein.

SAMSTAGNACHMITTAG vor dem Seiteneingang eines Supermarkts in Barmbek: Drei Frauen, ausgerüstet mit Einmal-Handschuhen und großen Klappboxen, klingeln an der Tür. „Prima, da kommen unsere Retterinnen. Rein mit euch!“, ruft der Mitarbeiter und führt sie ins Lager. Dort stehen sieben große Kisten mit Waren, die im Laden aussortiert wurden. Wirklich verdorben sind die wenigsten Dinge, aber den hohen Ansprüchen der Kundschaft genügen sie nicht mehr. Die drei Mitstreiterinnen der Initiative Foodsharing greifen zu: „Nur weil eine Banane eine braune Stelle hat oder ein Joghurt das Mindesthaltbarkeitsdatum überschreitet, sind sie doch trotzdem noch essbar“, finden die drei Hamburgerinnen. Schnell klappen sie ihre Boxen aus – und dann wird sortiert: Ist die Gurke noch okay oder soll sie besser weg? Alles was passabel aussieht, wird eingepackt, der Rest landet im Abfall. Netze mit Orangen werden aufgerissen, eine angeschimmelte wird aussortiert, alle anderen kommen in die Boxen. Lose Champignons sammeln sie in Windeseile in kleine Tütchen. Zu ihrer Ausbeute heute gehören Eier, Paprika, Joghurt, Basilikumpflanzen, Tomaten, abgelaufener Toast, Brokkoli und vieles, vieles mehr. Mangos aus Brasilien sind dabei, aber auch Trauben aus Südafrika und Blaubeeren aus Peru. „Für den Anbau wurden wertvolle Ressourcen eingesetzt und die Lieferungen haben jede Menge CO2 verschlungen. Es wäre doch verrückt, all das bei uns wegzuschmeißen“, sagt Foodsaverin Lucia Safa. Nach einer Viertelstunde haben die Frauen alles aufgeteilt, sie fegen durch und dann sind sie auch schon wieder verschwunden.

"Es wäre doch verrückt all das wegzuschmeißen"

Lucia Safa packt die Kisten in ihr Auto und macht sich auf den Weg zur Verteilstation. Zeit zum Erzählen: „Ich bin seit 2019 bei Foodsharing. Beim Nachbarschaftsnetzwerk nebenan.de hat damals jemand von Foodsharing berichtet. Die Idee fand ich cool, da wollte ich mitmachen.“

Heute ist sie bis zu fünf Mal pro Woche unterwegs bei Bäckereien, Supermärkten, Drogerien oder auch Lebensmittel-Lieferservices: „Natürlich ist es ein toller Nebeneffekt, wenn gerade Menschen mit kleinem Geldbeutel durch unsere Arbeit weniger Geld für Lebensmittel ausgeben müssen. Aber die eigentliche Motivation ist, dass die Lebensmittel nicht entsorgt werden.“ Jedes Jahr wird eine gigantische Menge Lebensmittel weggeworfen. Deutschlandweit sind es rund elf Millionen Tonnen, schätzt das Statistische Bundesamt. Gleichzeitig fehlt vielen Menschen das Nötigste zum Leben. Die Hamburger Tafel zum Beispiel würde gern mehr Lebensmittel verteilen, aber die Spenden sind rückläufig. Gleichzeitig fragen immer mehr Leute in den Ausgabestellen nach Nudeln, Gemüse und Co. Lucia Safa kennt viele, die jeden Euro zwei Mal umdrehen müssen. Sie arbeitet in einer sozialen Einrichtung. An Weihnachten hat sie einer Besucherin eine Gans mitgebracht, die sie zuvor in einem Supermarkt gerettet hatte: „Das war für diese Frau das tollste Weihnachtsgeschenk.“

RUND 4.500 TONNEN LEBENSMITTEL HAT FOODSHARING IN HAMBURG GERETTET

Foodsharing gibt es in vielen Städten in Deutschland, in Hamburg ist die Initiative seit 2013 aktiv. Mit rund 350 Betrieben gibt es Kooperationen – von Discountern und Wochenmärkten bis zu Bäckereien und Restaurants. „Wir können nicht auf das Kilo genau sagen, wie viele Lebensmittel wir vor der Tonne bewahrt haben, aber Pi mal Daumen sind es seit 2013 rund 4.500 Tonnen“, erklärt Katrin Meyer von Foodsharing Hamburg. Lucia Safa ist eine von gut 1.600 Menschen, die in Hamburger Betrieben einsammeln, was einst in den Regalen stand. Das sind nicht nur Lebensmittel, auch Klobürsten, Katzenfutter, Karnevalskostümen und Fahrradhelmen für Kinder hat sie schon ein zweites Leben geschenkt. Was sie in den Geschäften bekommt, das ist jedes Mal eine Überraschung. Die Herausforderung für Lucia Safa ist, wie sie all das weiterverteilt: „Vor ein paar Tagen habe ich so viel Brot bekommen, dass ich im Rückspiegel gar nichts mehr sehen konnte. Das ganze Auto war voll – und das abends um 21 Uhr.“ Für Lucia Safa fängt die Arbeit dann so richtig an. Per Messenger-Dienst informiert sie ihre Nachbarschaft und verteilt Brötchen, Baguette und Schwarzwälder Kirschtorte direkt aus dem Auto. Auch soziale Einrichtungen wie Stadtteiltreffs und die sogenannten Fairteiler von Foodsharing steuert sie regelmäßig an.

"Die Kundschaft ist extrem verwöhnt"

Nur ein paar hundert Meter von ihrem Zuhause steht ein solcher Fairteiler vor dem Unverpacktladen Streubar in Barmbek. Alle, die dort vorbeikommen, können die Lebensmittel aus dem Fairteiler kostenfrei mitnehmen. Die Sachen aus dem Supermarkt bringt Lucia Safa gleich nach der Abholung in den Schrank. Kaum sind Joghurt, Weintrauben und Toast ausgepackt, kommt ihr Nachbar Peter Bienzeisler vorbei. Er findet: „Es ist doch ein Drama, dass in den Geschäften auch kurz vor Ladenschluss noch alle Regale voll sind. Vermutlich traut sich der Handel nicht, weniger zu bestellen. Die Kundschaft ist extrem verwöhnt.“ Er packt zwei Tüten Milch und Futter für seinen Hund ein. Wichtig ist ihm, nur das zu nehmen, was er selbst verbrauchen kann. So können viele vom Foodsharing profitieren.

Der Fairteiler ist ein Projekt des Unverpacktladens Streubar und des gemeinnützigen Vereins Umdenkbar in Zusammenarbeit mit der Hamburger Verbraucherschutzbehörde. Das Team der Streubar steht hinter dem Konzept: „Wir wollen mit unserem Geschäft zeigen, dass man nachhaltig leben kann und dazu gehört für uns auch, dass Lebensmittel nicht verschwendet werden“, sagt Geschäftsführer Malte Urban. Das Team packt mit an und hilft zum Beispiel bei der täglichen Reinigung des Schranks. Außerdem nutzt der Laden seine Kanäle, wenn schnell verteilt werden muss: „Neulich kamen 100 Kilo Bananen rein. Die müssen natürlich schnell an den Mann und die Frau, wir posten große Lieferungen dann auf unserem Instagram-Auftritt.“ Malte Urban findet es toll, dass der Fairteiler so gut genutzt wird: „Wir sprechen auch unsere Kundschaft darauf an und die ist begeistert.“ Dass Dinge nicht abgeholt werden und dann wirklich verderben, passiere nur selten. Angst vor Konkurrenz hat der Unverpacktladen nicht: „Natürlich sind auch Linsen oder Leinsamen dabei, die wir auch im Sortiment haben. Aber ich finde es gut, wenn die Sachen mitgenommen werden. Wir haben keinen Konkurrenzgedanken.“ Wichtig findet er, dass das Angebot offen für alle ist. Niemand sollte sich zurückhalten – unabhängig vom Einkommen. Beim Verteilen muss es oft schnell gehen.

BANANENCHIPS STATT MÜLLTONNE

Lucia Safa hat inzwischen all ihre gesammelten Schätze verteilt. Ein großer Teil kommt in den Fairteiler und wird hoffentlich schnell mitgenommen. Für sich selbst und eine Nachbarin hat sie kleine Körbe gepackt. Die Foodsaverin findet es schwer erträglich, Dinge wegzuschmeißen. Sie hat deshalb in Küchenausrüstung investiert. Die übrigen Bananen von der 100-Kilo-Lieferung hat sie zum Beispiel mit ihrem Dörrautomat zu Bananenchips verarbeitet; übrige Karotten und Orangen kommen oft in den Entsafter: „Über kurz oder lang werden Foodsaver äußerst kreativ in der Verarbeitung frischer Lebensmittel. Das ist auch eine gute Sache.“

Text: Andrea Guthaus

 

Ausgabe als PDF speichern